Im Porträt: Medizinhistoriker PD Dr. phil. Ralf Forsbach

„Wir wollen nicht nur erinnern, sondern auch der vom NS-Unrecht betroffenen DGIM-Mitglieder gedenken“

Dass die DGIM heute die größte medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft Europas ist, verdankt sie nicht zuletzt den vielen engagierten Mitgliedern. Im Newsletter DGIM aktuell stellen wir diese Menschen vor. Heute: Privatdozent Dr. phil. Ralf Forsbach. Der Medizinhistoriker lehrt und forscht am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Seit seinen mit Professor Dr. Hans-Georg Hofer durchgeführten Forschungen zur Geschichte der DGIM („Internisten in Diktatur und junger Demokratie. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933-1970, Berlin 2018“) steht er unserer Fachgesellschaft beratend zur Seite.

Dr. Forsbach, es ist jetzt gute 4 Jahre her, dass die erste Version der Webseite dgim-history.de online ging. Könnten Sie uns nochmal einen kurzen Überblick über die Entstehung und Ziele des Projekts „DGIM – Gedenken und Erinnern“ geben? Was war der Ausgangspunkt für diese historische Aufarbeitung?

Vor fast zwanzig Jahren begann die DGIM, sich intensiv mit ihrer NS-Geschichte auseinanderzusetzen. Dem damaligen Geschäftsführer Maximilian Broglie fielen Ungereimtheiten auf, so waren in einem 1982 erschienenen Jubiläumsband Reden aus der NS-Zeit geschönt und Huldigungen an den „Führer“ und das „Dritte Reich“ getilgt/entfernt. Auch die antisemitisch motivierte Absetzung des Präsidenten Leopold Lichtwitz 1933 wurde in einer 1994 erschienenen Chronik nicht erwähnt.

Diese und andere Fälle veranlassten Broglie, Hans-Peter Schuster und Wolfgang Hiddemann 2008 zu einer kritischen Untersuchung der Präsidentenreden aus der NS-Zeit. Alexander Schulz hatte kurz zuvor eine Geschichte der DGIM veröffentlicht, in der die NS-Zeit erstmals ein eigenes Kapitel erhielt. Es wurde jedoch schnell klar, dass tiefere geschichtswissenschaftliche Forschung notwendig war, um Fragen nach Entscheidungen und Verantwortlichkeiten zu klären.

Der damalige Vorstand beauftragte den heute an der Universität Münster lehrenden/den damals an der Universität Bonn lehrenden Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer mit einem Forschungsprojekt, zu dem auch ich hinzugezogen wurde. Erste Ergebnisse präsentierten wir 2015 auf dem DGIM-Kongress in Mannheim in einer Ausstellung, die vom Präsidenten des Zentralrats der Juden Josef Schuster eröffnet wurde. 2018 erschien schließlich das viel beachtete Buch unter dem Vorsitz von Cornel Sieber.

Und wie kam es dann zur Website? Wie sieht Ihre Arbeit am Projekt derzeit aus?

Unser Projekt war eine Pionierarbeit für die Innere Medizin. Die Ergebnisse sollten nach einer gewissen Zeit in gedruckter Form vorliegen, obwohl klar war, dass die umfangreichen biographischen Recherchen bis zur Drucklegung nicht abgeschlossen sein würden. Wir erwarteten, dass sich nach Erscheinen des Buches Betroffene, Zeitzeugen oder deren Nachkommen melden würden, was auch geschah.

Auf der Webseite können wir jederzeit neue Biografien hinzufügen und bestehende durch neue Erkenntnisse, Fotos, Dokumente oder Filme ergänzen. Wichtig ist dabei sowohl das „Erinnern“ als auch das „Gedenken“. Die Gestaltung der Website regt dazu an, innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, wie viele Mitglieder unserer Fachgesellschaft von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffen waren.

Ein weiterer Gedanke entwickelte sich: Wir wollten den DGIM-Mitgliedern, die von nationalsozialistischem Unrecht betroffen waren, möglichst auch an ihren Wohn- oder Wirkungsstätten gedenken. Daher initiierte die DGIM im Rahmen der Kunstaktion von Gunter Demnig mehrere sogenannte „Stolpersteine“. Bisher wurden Stolpersteine in Wiesbaden, Hamburg und zweimal in Berlin verlegt. Im November wird eine Verlegung in Köln stattfinden.

Gibt es persönliche Schicksale oder Geschichten, die Sie im Rahmen des Projektes besonders berührt haben?

Die biografischen Details sind oft erschütternd. Es beginnt damit, dass zuvor hoch angesehene Ärzte nach ihrer Flucht im Aufnahmeland oft einen Großteil ihres Medizinstudiums wiederholen mussten, weil ihre deutschen Papiere nicht anerkannt wurden. Und es endet damit, dass ein Internist Deutschland aus Liebe zu seiner Heimat nicht verlassen wollte und sich das Leben nahm oder in der Shoah ermordet wurde.

Die Familie Henius ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Nachdem wir das Leben des nach Luxemburg emigrierten Internisten Kurt Henius erforscht und seine Biografie auf dgim-history.de veröffentlicht hatten, regten wir auch in diesem Fall Stolpersteine an - für ihn selbst und fünf mit ihm geflohene Familienmitglieder. Daraufhin meldeten sich Verwandte und vermittelten den Kontakt zu der jüngsten Tochter Marianne Dupont, die als Kleinkind mit ihrem Vater emigriert war, deshalb selbst einen Stolperstein erhielt und nun auf Einladung der DGIM an der Stolpersteinverlegung in Berlin teilnahm. Frau Dupont konnte uns viel erzählen und weitere Quellen zur Verfügung stellen.

Wenn wir auf Ihre Forschungen im engeren Sinne zurückkommen: Was waren dabei die größten Herausforderungen?

Die DGIM besitzt bis auf wenige Ausnahmen keine Originaldokumente aus der NS-Zeit; ein historisches Archiv mit Sachakten oder Korrespondenzen existiert nicht. Um die Geschichte der DGIM rekonstruieren zu können, mussten wir daher in öffentlichen Archiven nach Dokumenten suchen. Da die Vorsitzenden Universitätsprofessoren waren, halfen hier vor allem die einschlägigen Universitätsarchive mit ihren Personalakten, die oft auch Korrespondenzen enthalten. Will man jedoch das Schicksal eines einfachen Mitglieds rekonstruieren, ist man auf die Hilfe von Kommunalarchiven oder Nachfahren angewiesen. Manchmal helfen auch frühere Forschungen, oft von Lokalhistorikerinnen und -historikern, die z.B. über die NS-Zeit in ihrer Stadt und über vertriebene Jüdinnen und Juden geforscht haben. Was wir für unsere Arbeit suchen, finden wir also selten zentral in der Geschäftsstelle der DGIM in Wiesbaden, sondern müssen in allen denkbaren Archiven, Institutionen, Datenbanken und bei Angehörigen nachfragen.

Auch andere Fachgesellschaften arbeiten ihre eigene Geschichte auf. Gibt es hier einen Austausch zum Beispiel mit der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie oder der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie und konnten Sie hieraus neue Erkenntnisse gewinnen?

Gerade mit den von Ihnen genannten zur Inneren Medizin gehörenden Spezialfächern und deren Fachgesellschaften stehen wir im Kontakt. Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie hat vor über einem Jahrzehnt schon Harro Jenss geforscht, Peter Voswinckel zur Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie. Solche Forschungsergebnisse greift man gerne auf. Darüber hinaus nehmen wir es natürlich zur Kenntnis, wenn wie jüngst die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGN) ihren Franz-Volhard-Preis umbenennt. Franz Volhard war auch Vorsitzender und Ehrenmitglied der DGIM. Die DGN hat die von der DGIM veranlassten Forschungen rezipiert, gewiss eigene Recherchen angestellt und dann eine geschichtspolitische Entscheidung getroffen. Ich als Historiker greife eine solche Entscheidung auf und ergänze entsprechend unseren Eintrag zu Volhards Nachwirkung auf dgim-history.de.

Wie wichtig sind solche Projekte in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks?

Als Historiker orientiert man sich an einem Leitgedanken von Leopold von Ranke, nämlich darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“. Das tut man unabhängig von Erwartungshaltungen. Allerdings verändern sich Fragestellungen. So entstehen derzeit vermehrt geschichtswissenschaftliche Studien zu den Verantwortlichkeiten, die zum Klimawandel geführt haben.

Aber zur NS-Geschichte wird nicht anders geforscht, wenn rechte Parteien Wahlerfolge erzielen. Ich bezweifle auch, dass unsere Publikationen ideologisch Verblendete in irgendeiner Weise überzeugen können. Generell ist historische Bildung wichtiger. Medizinstudierende sollten wissen, wie und warum im NS-Staat „Euthanasie“, Zwangssterilisationen und verbrecherische Menschenversuche durchgeführt wurden und wie Ärztinnen und Ärzte dafür und für die Verfolgung von Kolleginnen und Kollegen Verantwortung trugen. Solche Kenntnisse zu vermitteln, ist laut Approbationsordnung Teil des Studiums, und die medizinhistorischen Institute der Universitäten nehmen diese Aufgabe seit Jahrzehnten wahr.

Erfreulich ist, dass Studierende häufig Interesse entwickeln, selbst forschen und immer wieder auch medizinhistorische Dissertationen zu Fragen der NS-Zeit anfertigen. Eine Grundlagenforschung, wie sie Professor Hofer und ich für die DGIM betrieben haben, regt zu weiteren Spezialstudien an. Doktorandinnen und Doktoranden haben entsprechende Aufsätze und Dissertationen verfasst. Ich denke zum Beispiel an einen Aufsatz von Vera Zielonka über jüdische Ärztinnen in der DGIM und an laufende Dissertationen über das im Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätige DGIM-Mitglied Walter Seitz und über den problematischen DGIM-Vorsitzenden von 1938/39 Wilhelm Stepp. Solche Arbeiten generieren Wissen, das für unsere historische Aufarbeitung in der DGIM wichtig ist, das der Geschichtswissenschaft zu Erkenntnisgewinn verhilft und das uns allen hilft, rechten Propagandaparolen argumentativ entgegenzutreten.

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